"Umstritten" war schon beinahe vergessen, ehe es zu einer prägenden Vokabel der Medienrepublik wurde. |
Es war auf einmal da, erst ein bisschen, dann immer mehr. Autoren trugen es wie einen zweiten Vornamen, Filmemacher, Musiker, Politiker, Moderatoren. Den Titel zu erringen, braucht es kein Großwerk und kein Bewerbungsverfahren, es gibt keine Anerkennungsprozess und keine Vereinbarungen darüber, wer es wird, wann und warum. Aktenkundig ist die frühere Fernsehansagerin Eva Herman, die ganz am Anfang das Wort "Autobahn" in einem Fernsehstudio aussprach, in einem Satz mit "Hitler". Herman wurde aus dem Studio geworfen. Und ihr gelang es damit über Nacht, eine der ersten öffentlichen Personen im Land zu werden, die mit dem Begriff "umstritten" beschrieben wurden.
Durchbruch durch Sarrazin
Nicht Herman aber war es, die dem adjektivischen Partizip des veralteten Verbs "umstreiten" als bündiger Formulierung für "mit jemandem streiten" zum Durchbruch verhalf. Dieses Verdienst kommt zweifellos dem SPd-Politiker Thilo Sarrazin zu, dem es um das Jahr 2010 nicht nur gelang, im Zusammenspiel mit dem früheren Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" die 18. Jahrhundert aus dem Lateinischen crudus für "roh" und grausam" entwickelte Vokabel "krude" zurück in die öffentliche Aufmerksamkeit zu katapultieren. Sondern nebenher auch das bis dahin in kleinen Zirkeln von Forschenden als Synonym für "anfechtbar, angreifbar, beanstandbar, bestreitbar" genutzte "umstritten" einer breiten Öffentlichkeit zur Nutzung anzubieten.
Vergessene Vokabel
Die beständig wachsende Beliebtheit, der sich die Umstrittenheit erfreut, lässt sich anhand einer Analyse der Datenbanken des "Spiegel" erkennen. In den 32 Jahren zwischen 1948 und 1980 taucht das Wort "umstritten" ganze 1035 Mal in Spiegel-Artikeln auf. Das läuft eine Verteilungshäufigkeit von 32 Mal im Jahr zu, die später langsam, aber mit steigender Dynamik zunimmt: In den zehn Jahren von 1980 bis 1990 wird "umstritten " knapp 1.000 Mal verwendet. In den zehn Jahren vom Jahr der Einheit bis zum Jahr 2000 dann 3.000 Mal, also schon zehnmal häufiger als in den unumstrittenen Gründungsjahren der Bonner Republik.
Die große Karriere aber steht dem Wort in jenen unumstrittenen Gründungsjahren der Einheitsrepublik noch bevor: Zwischen dem Jahr 2000 und heute taucht "umstritten" schon sagenhafte 10.000 Mal im "Spiegel" auf, 88 Mal im Monat und allein im Zeitraum 2021 bis 2022 häufiger als in den 22 Jahren zwischen 1948 und 1970. Eine Karriere, wie sie auch das Luftwort "gilt" hinter sich hat.
Umstrittene Schmuddelkinder
Gilt beschreibt Dinge, die nicht erklärt werden müssen oder sollen, die deutsche Danachrichtenagentur DPA hat den Begriff zu einem Grundpfeiler jeder Art von Berichterstattung gemacht. "Gilt" verweist auf etwas, das ist oder auch nur sein könnte, es braucht keine Zeugen, keine Beweise und nicht einmal Belege. Gilt gilt einfach, es verweist auf einen common sense, der vielleicht Tatsache ist, vielleicht aber auch nur Wunsch. Gilt benötigt, um zu wirken, nur Sprache, keine Fakten: Dass etwas unter Wissenschaftlern als zutreffend gilt, ist eine Angabe kurz vor dem Gottesbeweis. Dass Kabinettsbeschlüsse und Entscheidungen der EU-Kommission in den Parlamenten als "Formsache" oder "Formalität" durchgereicht werden, gilt stets als so sicher, dass es schlussendlich auch so kommt.
Umstritten" funktioniert auf ganz ähnliche Weise. Wer umstritten ist, den umweht ein Hauch von Anrüchigkeit, mit ihm will selbst der nicht gern gesehen werden, der nicht weiß, woher die Umstrittenheit eigentlich kommt. Der Umstrittene ist das Schmuddelkind der Mediengesellschaft, ein Paria, um den kein Weg herumführt, dem aber kein Ausweg geboten werden darf, in die Gemeinschaft der Unumstrittenen zurückzukehren. Umstritten ist eine lebenslange Strafe, einzig das völlige Verschwinden erlöst vom Ruch des Zweifelhaften, vom Verdacht, falsch Zeugnis abzulegen oder falsche Gedanken zu denken.